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Noam Chomsky: Anweisungen zur Wahl

4. August 2016

Noam Chomsky und John Halle: Acht-Punkte-Anweisung zum Thema WGÜ (Wahl des geringeren Übels)


(Dieser Artikel wurde von Noam Chomsky und John Halle geschrieben und ist ursprünglich auf “Johnhallee.com” erschienen. acTVism Munich hat diesen Text sinngemäß ins Deutsche übertragen.)


Es ist Teil der schwachen Form von Demokratie, wie sie in der [US]-Verfassung verankert ist, dass Präsidentschaftswahlen nach wie vor ein Dilemma für die Linke darstellen, da jede Art von Teilnahme oder Nichtteilnahme scheinbar auf Kosten unserer Möglichkeiten geht, eine ernsthafte Opposition gegen die konzerngelenkte Agenda der etablierten Politik zu bilden. Die Haltung, die im Folgenden dargestellt wird, ist das, was viele als die effektivste Reaktion auf die vierjährliche Wahl zwischen Pest und Cholera erachten, nämlich die sogenannte Wahl des „geringeren Übels“, kurz WGÜ. Einfach gesagt bedeutet WGÜ, wo immer möglich – also in den „Safe States“ ­(den US-Bundesstaaten, die eindeutig einer Partei zurechenbar sind) –den verlierenden Kandidaten einer Drittpartei oder gar nicht zu wählen. Wo eine Wahl getroffen werden muss, also in umkämpften „Swing States“ (US-Bundesstaaten mit wechselnder Wählermehrheit), wählt man den Demokraten des „geringeren Übels“.

Bevor Widerspruch eingereicht wird, ist es hilfreich, einige Hintergrundbestimmungen im Hinblick auf die weiter unten aufgelisteten Punkte zu treffen. Die erste davon ist der Hinweis, dass Änderungen der relevanten Tatsachen eine Änderung der Taktik erfordern. Daher sollten Vorschläge, die mit unserem Verhältnis zum „Wahlspektakel“ zu tun haben, als provisorisch betrachtet werden. Dies ist vor allem im Bezug auf Punkt 3) relevant, den einige mit der Begründung Anfechten werden, dass Clintons Außenpolitik eine größere Bedrohung darstellen könnte, als die von Trump.

Während die geringe Möglichkeit eingeräumt wird, dass Trumps Außenpolitik zu bevorzugen ist, brauchen die meisten von uns, die noch nicht davon überzeugt sind, mehr Beweise als in einer Diskussion zu dieser Aussage dargelegt werden können. sofern dies den Tatsachen entspricht, scheint es des Weiteren so, als müsste man seine Stimme für Trump abgeben, wenn man dieser Logik konsequent treu bleiben möchte, auch wenn es schwierig ist, festzustellen, ob diejenigen, die das vorschlagen, es auch ernsthaft vorhaben.

Ein weiterer umstrittener Punkt ist nicht sachlicher Art, sondern involviert das ethische/moralische Prinzip, das unter 1) zur Sprache kommt und manchmal als „Politik der Moralprediger“ („politics of moral witness“) bezeichnet wird. Auch wenn dies generell mit der religiösen Linken assoziiert wird, berufen sich auch säkulare Linke implizit darauf, wenn sie WGÜ mit der Begründung ablehnen, dass „das geringere Übel immer noch Übel“ sei. Wenn wir die offensichtliche Erwiderung, dass es bei der Wahl des geringeren Übels doch eben genau darum geht, weniger Übel anzurichten, einmal beiseitelassen, ist es die folgende Annahme, die in Frage gestellt werden muss: Dass Wahlen als Form der individuellen Selbstentfaltung angesehen werden sollten, statt als Akt, der aufgrund seiner Konsequenzen beurteilt werden sollte, speziell derer, die unter 4) dargestellt werden. Das grundsätzliche moralische Prinzip, um das es geht, ist simpel: wir müssen nicht nur für unsere eigenen Handlungen die Verantwortung übernehmen. Die Konsequenzen unserer Taten für andere verdienen weitaus mehr Berücksichtigung als unsere Selbstzufriedenheit.

Einige würden vorschlagen, die Kritik auszuweiten, indem sie anmerken, dass die „Politik der Moralprediger“ soweit gehen kann, dass sie von narzisstischer Selbstüberhöhung nicht zu unterscheiden ist. Diese Kritik ist entschieden strenger als beabsichtigt war und auch strenger als verdient. Dennoch sollten diejenigen, die WGÜ-Befürworter auf angeblich „moralischer“ Basis verurteilen, bedenken, dass ihre moralische Überlegenheit, die sie oft als gegeben annehmen, möglicherweise gar nicht so sicher ist.

Eine dritte Kritik setzt WGÜ mit passivem Einverständnis zum Status Quo des Zweiparteiensystems unter dem Deckmantel des Pragmatismus gleich, in der Regel seitens derer, welche die Lust zu radikaler Veränderung verloren haben. Es ist sicherlich der Fall, dass einige, die WGÜ befürworten, dies wider Treu und Glauben tun – zynische Funktionäre, deren Ziel es ist, die Kapitulation vor einem System voranzutreiben, in dessen Schutz sie investiert sind. Anderen WGÜ-Unterstützern kann man jedoch kaum in vernünftiger Weise vorwerfen, dass sie ihren Frieden mit dem Establishment gemacht haben. Ihrem Anliegen, siehe 6) und 7), haftet die Erkenntnis an, dass leichtfertige und unüberlegte Wahlentscheidungen nicht ohne Folgen bleiben – in Erinnerung an die Ultra-Linke Fraktion der Friedensbewegung, welche die verhältnismäßigen Gefahren der Nixon-Präsidentschaft während der Wahlen 1968 bagatellisierte. Die Folge waren sechs Jahre sinnloser Vernichtung und Zerstörung in Südostasien sowie ein vorhersehbarer Bruch der Linken, der sie für ihren ultimativen Zusammensturz in den folgenden Jahrzehnten der Gegenreaktion in Stellung brachte.

Die weitgefasste Lehre, die gezogen werden muss, ist nicht etwa, davor zurückzuschrecken, der Dominanz des politischen Systems unter der Führung der zwei großen Parteien die Stirn zu bieten. Vielmehr muss seine Infragestellung in vollem Bewusstsein der möglichen Konsequenzen erfolgen. Dies beinhaltet nicht nur die Erkenntnis, dass Siege von Rechtsaußen den schwächsten Teilen der Gesellschaft fürchterliches Leid aufzwingen, sondern auch eine mächtige Waffe in den Händen des Zentrums des Establishments darstellen, das, nun in der Opposition, als „vernünftige Alternative“ posieren kann. Eine Trump-Präsidentschaft, sollte sie zustande kommen, wird die aufkeimende Bewegung um die Sanders-Kampagne schwächen, vor allem, wenn diese so wahrgenommen wird, als hätte sie die Gefahren, die von Rechtsaußen ausgehen, verharmlost.

Eine etwas pauschalere Schlussfolgerung, die man aus dieser Erkenntnis ziehen muss, ist, dass diese Art der strategischen Kosten/Nutzen-Buchführung wesentlich ist für jede Politik, die es mit radikaler Veränderung ernst meint. Die auf der Linken, die das ignorieren oder als irrelevant ablehnen, beteiligen sich an politischer Fantasterei und sind ein Hindernis für die Bewegung, die sich aktuell zu bilden scheint. Zum Schluss sollte verstanden werden, dass das herrschende dogmatische System die Rolle von Präsidentschaftswahlen als Mittel begreift, um die Linke von Aktionen wegzuführen, die das Potenzial haben, ihre Agenda effektiv vorwärts zu treiben. Diese beinhalten die Bildung von Organisationen, die sich auf außerpolitischem Wege engagieren, vor allem durch Straßenproteste, aber auch die Bewerbung um ein Amt in einem Rennen, dass zu gewinnen ist. Die Linke sollte das Minimum an Zeit für die Wahl des geringeren Übels aufwenden und anschließend sofort wieder Ziele verfolgen, die sich nicht nach dem zeitlichen Ablauf des nationalen Wahlzyklus richten.


Acht-Punkte-Anweisung zum Thema WGÜ (Wahl des geringeren Übels):

1) Wahlen sollten nicht als Form der Selbstentfaltung angesehen werden oder als moralische Beurteilung in einem Rachefeldzug gegen die Hauptkandidaten der Parteien, die unsere Werte nicht widerspiegeln, oder eines korrupten Systems, das gestaltet wurde, um Auswahlmöglichkeiten auf solche zu beschränken, die für die Eliten akzeptabel sind.

2) Die exklusive Konsequenz des Wahlakts im Jahr 2016 wird es sein, die Chancen, dass einer der beiden Hauptkandidaten gewinnt, marginal zu schmälern oder zu erhöhen (sofern in einem umkämpften „Swing State“ durchgeführt).

3) Einer dieser Kandidaten, Trump, leugnet die Existenz globaler Erwärmung, fordert die erhöhte Nutzung fossiler Brennstoffe, die Aufhebung von Umweltregulierungen und verweigert Indien und anderen Entwicklungsländern Unterstützung, wie sie im Pariser Abkommen gefordert wurde. Die Kombination dessen könnte uns in vier Jahren an einen katastrophalen Umkehrpunkt führen. Trump hat auch zugesagt, 11 Millionen mexikanische Immigranten zu deportieren. Er hat angeboten, etwas zur Verteidigung der Unterstützer beizusteuern, die bei seinen Kundgebungen Afroamerikanische Demonstranten attackiert haben, hat seine Bereitschaft zur Verwendung nuklearer Waffen bekundet, unterstützt ein Verbot, das Muslime davon abhält, in die USA zu reisen und hält die „Polizei in diesem Land für absolut falsch behandelt und missverstanden“, während sie gleichzeitig „einen unglaublich guten Job in Sachen Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung“ leiste. Trump hat auch versprochen, Militärausgaben zu erhöhen, Steuern für die Reichen zu senken und damit das, was vom „Rettungsnetz“ der Sozialhilfe noch übrig ist, zu zerreißen, auch wenn er anderes vortäuscht.

4) Das Leid, das diese und andere ähnlich extreme Strategien und Einstellungen den marginalisierten und schon jetzt unterdrückten Bevölkerungen aufzwingen wird, ist mit großer Wahrscheinlichkeit größer als das Leid, welches aus einer Clinton-Präsidentschaft resultieren würde.

5) Es sollte ausreichend Grund liefern, um dort für Clinton zu stimmen, wo die Wahl potenziell Konsequenzen haben könnte – nämlich in einem umkämpften „Swing State“.

6) Die Linke sollte jedoch auch begreifen, dass ihr, sollte Trump aufgrund ihrer mangelnden Unterstützung für Clinton gewinnen, (basierend auf Fakten) vorgeworfen werden wird, sich nicht ausreichend um diejenigen zu sorgen, die mit Sicherheit am meisten unter einer Trump-Regierung schikaniert werden.

7) Dieser Vorwurf wird oft von Funktionären des Establishments ausgehen, die ihn als böswillige Rechtfertigung nutzen werden, um Infragestellungen der konzerngelenkten Vorherrschaft in der Demokratischen Partei oder außerhalb zu überwinden. Sie werden sicherstellen, dass es flächendeckend in den Mainstream-Medien zirkuliert, was zur Folge haben wird, dass viele, die ansonsten einer Kampfansage von Links wohlwollend gegenüberstünden, einen überzeugenden Grund finden, ihre Verbundenheit mit dem politischen Establishment beizubehalten, statt sie zu durchbrechen, wie es notwendig wäre.

8) Schlussfolgerung: indem die Logik der „Wahl des geringeren Übels“ ausgeblendet und damit die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage Clintons erhöht wird, untergräbt die Linke das, was sich im Herzen von dem, was sie zu erstreben vorgibt.


Über Noam Chomsky:

noam-chomsky-black-and-whiteNoam Chomsky ist ein weltweit anerkannter politischer Dissident, Anarchist, Linguist, Autor und emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er seit über einem halben Jahrhundert lehrt.

Chomsky hat mehr als 100 Bücher geschrieben, das jüngste unter dem Titel „Because We Say So“.

Chomsky war während seiner gesamten Karriere eine enorm einflussreiche akademische Persönlichkeit und wurde zwischen 1980 und 1992 öfter vom Arts and Humanities Citation Index (A&HCI) zitiert als jeder andere lebende Wissenschaftler. Seine Arbeit hat eine Vielzahl von Bereichen beeinflusst, darunter Künstliche Intelligenz, Kognitionswissenschaft, Computerwissenschaft, Logik, Mathematik, Musiktheorie und #Analyse, Psychologie und Immunologie.

Chomsky entwickelte gemeinsam mit Edward S. Herman zudem das Propagandamodell für Medienkritik, welches beide im Buch „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media (Die Konsensfabrik)” vorstellen.

Chomsky gilt nach wie vor als einer der führenden Kritiker US-Amerikanischer Außenpolitik, des neoliberalistischen Kapitalismus sowie der Maintstream-Nachrichten-Kanäle.


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Noam Chomsky, Glenn Greenwald und Edward Snowden

acTVism Munich plant weitere Teile des Events „A Conversation on Privacy“ mit Edward Snowden, Glenn Greenwald und Noam Chomsky zu übersetzen. acTVism Munich glaubt, dass die Privatsphäre von zentraler Wichtigkeit für die Demokratie ist und eine Herstellung einer breiten und globalen Informationsdichte von größter Bedeutung für die Zukunft der Freiheit ist. Außerdem konnte acTVism Munich ehrenamtliche Helfer in New York mobilisieren, um ein Event mit Yanis Varoufakis und Noam Chomsky aufzunehmen, welches von der „New York Public Library“ (NYPL) organisiert wurde. Dieser Event fand am 26. April 2016 statt, besprochen wurden unter anderem der Stand der Demokratie in Europa sowie die drohenden ökonomischen und sozialen Probleme für Europa.

Saal_der_Bundespressekonferenz
Saal der Bundespressekonferenz

Daneben wird acTVism Munich Ende August Zugang zur Bundespressekonferenz in Berlin bekommen. Dies wird uns die Möglichkeit geben, kritische Fragen direkt an die deutsche Regierung zu stellen und dadurch Bewusstsein für eine ganze Bandbreite an Themen herzustellen, die in den deutschen Massenmedien üblicherweise nicht behandelt werden. Wir werden versuchen, alle Fragen und Antworten ins Deutsche zu übersetzen und zu synchronisieren.

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NSA-Whistleblower Edward Snowden

Außerdem: Der NSA-Whistleblower Edward Snowden bestätigte seine Teilnahme via Video-Konferenz für das kommende acTVism Munich Event „Freedom and Democracy: Global Issues Connecting the Dots” im Muffatwerk in München. Für diesen Event wollen wir führende Experten zusammenbringen, um die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Problemen zu diskutieren, und zu erörtern, wie das System funktioniert. Wir glauben, dass wir nur zu brauchbaren Lösungen kommen können, wenn die Öffentlichkeit über die prinzipiellen und strukturellen Feler des Systems informiert wird. Weitere Informationen folgen bald!

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