Griechenland und die Lüge von der „überwundenen“ Finanzkrise
Von Ernst Wolff
Wer in der vergangenen Woche die Vorgänge im griechischen Bankensystem verfolgte, der rieb sich verwundert die Augen: Die vier größten Geldinstitute – Piräus Bank, Eurobank, Alpha Bank und National Bank – erlebten an der Athener Börse ein wahres Erdbeben.
Seit Anfang September hatte es im Bankensektor des Landes bereits gekriselt, doch in den ersten Oktobertagen verschärfte sich die Situation dramatisch: Die vier Institute mussten Einbußen von bis zu vierzig Prozent hinnehmen, der Aktienkurs der Piräus Bank brach um fast 30 Prozent ein, der Athener Bankenindex fiel auf den tiefsten Stand seit 31 Monaten.
Wie konnte das sein? War Griechenland nicht erst im August unter großem Beifall der Politik aus dem Euro-Rettungsschirm entlassen worden? Und hatten die vier Großbanken nicht erst im Mai einen Stresstest der EZB bestanden?
Stresstests: PR-Instrument der EZB
In der Tat sind gerade einmal sechs Wochen vergangen, seit EU-Präsident Tusk dem griechischen Volk mit den Worten „Ihr habt es geschafft!“ per Twitter zur Rückkehr an die internationalen Finanzmärkte gratulierte und EU-Finanzkommissar Moscovici von einem “symbolischen Schlussstrich unter eine existenzielle Krise des Euro-Währungsgebiets” sprach. Und es ist nicht einmal ein halbes Jahr her, dass die EZB den vier systemrelevanten griechischen Großbanken attestiert hatte, auch schwere Turbulenzen ohne größere Schäden überstehen zu können?
Wer allerdings meint, dass derartige Stresstests irgendeine Aussagefähigkeit über den tatsächlichen Zustand von Geldinstituten haben, der sei daran erinnert, dass die griechischen Banken in den vergangenen acht Jahren dreimal bankrott gegangen sind – und jedes Mal vorher die Stresstests der EZB bestanden haben.
Im Grunde sind solche Tests nichts anderes als ein PR-Instrument, mit dem die EZB die Öffentlichkeit über den wahren Zustand des Finanzsystems hinwegtäuscht. Selbst wenn sie mit größer Sorgfalt und Ernsthaftigkeit durchgeführt würden, wäre ihr Ergebnis weitgehend unbrauchbar, und zwar aus folgendem Grund: Mehr als vierzig Prozent der Bankgeschäfte werden heute von unregulierten Schattenbanken, hauptsächlich von Hedgefonds, getätigt und die Großbanken haben den riskantesten Teil ihrer Geschäfte längst in diesen Bereich ausgelagert. Insbesondere der Handel mit hochriskanten Derivaten entzieht sich fast gänzlich jeder Kontrolle, da es sich um sogenannte „Over-the-Counter-Geschäfte“ handelt, die in den Bilanzen der Geldhäuser gar nicht auftauchen. Kein Wunder also, dass die Ergebnisse der Stresstests im Grunde wertlos sind.
Sogar ein Laie würde bei einem Blick auf die Bilanzen der griechischen Großbanken skeptisch werden: Diese Geldhäuser hielten zur Jahresmitte 2018 faule Kredite (Kredite, die seit mindestens 90 Tagen nicht mehr bedient wurden oder ausfallgefährdet sind) in Höhe von 88,6 Mrd. Euro in ihren Büchern – ein Wert, der knapp der Hälfte aller ausgereichten Darlehen entspricht und den von der EU geforderten Höchstwert um das Neunfache übertrifft!
Krise überwunden? Auf keinen Fall…
Was die Entlassung Griechenlands aus dem EU-Rettungsschirm betrifft, so reicht auch hier ein Blick auf Zahlen und Fakten, um der Euphorie der EU-Bürokraten jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen: Griechenland hat seine Probleme seit 2010 bereits dreimal nur mit fremder Hilfe überstanden und innerhalb von acht Jahren Kredite von insgesamt 289 Mrd. Euro aufgenommen. Der Schuldenberg des Landes liegt inzwischen bei rund 180 Prozent der Wirtschaftsleistung – der mit Abstand höchste Wert in Europa.
Um die Illusion einer Rückzahlung aufrecht zu erhalten, haben die Gläubiger des Landes die Schulden immer weiter gestreckt. So haben die Kredite des Europäischen Rettungsfonds ESM mittlerweile eine Restlaufzeit von 32 Jahren, die EFSF-Kredite wurden im Juni dieses Jahres sogar bis 2060 auf 42 Jahre verlängert. Außerdem wurden Zinszahlungen, die eigentlich für 2022 angesetzt waren, um weitere 10 Jahre bis Ende 2032 gestundet.
All das ist nichts anderes als unseriöse Zahlenakrobatik, mit der das Eingeständnis, dass Griechenland und seine Banken längst hoffnungslos bankrott sind, umgangen wird. Warum? Weil Griechenlands Finanzsektor ein Teil des völlig außer Kontrolle geratenen internationalen Finanzcasinos ist und weil ein Bankrott wegen der engen Verflechtung griechischen und ausländischen Kapitals und wegen der unkalkulierbaren Risiken für den Euro und im Derivatebereich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Einbruch des gesamten Systems führen würde.
Die Aussichten: Katastrophal…
Wie wird es weitergehen? Die Regierung in Athen arbeitet bereits zusammen mit dem Euro-Rettungsschirm ESM und dem griechischen Bankenverband an einem „Interventionsplan“, also einem klassischen Bail-Out mit Hilfe von Steuergeldern aus der EU. Ein von der EU mittlerweile vorgeschriebener Bail-in (also die Beteiligung von Anteilseignern, Anlegern und Aktionären wird offenbar gar nicht erst erwogen, weil man die politischen und sozialen Konsequenzen fürchtet.
Zudem versuchen die in Schieflage geratenen Banken die faulen Kredite derzeit zu bündeln und zu Niedrigpreisen zu verscherbeln. Zwar gibt es genügend Hedgefonds, die bereits darauf warten, zu Minipreisen zuzugreifen. Das aber wird den Markt zusätzlich schwächen und eine weitere Spirale nach unten in Gang setzen.
Gelöst werden die Probleme Griechenlands also auf keinen Fall, aber zwei Dinge sind schon jetzt sicher: Die nächsten Hilfszahlungen werden kommen müssen, und bezahlen wird dafür in erster Linie die arbeitende griechische Bevölkerung, von der 35 Prozent bereits an oder unter der Armutsschwelle lebt, deren Mittelschicht inzwischen von einer Steuerlast von bis zu 75 Prozent erstickt wird und deren Senioren im Januar eine weitere (die 23.) Rentenkürzung, diesmal um 18 Prozent, werden hinnehmen müssen.
Egal, von welcher Seite aus man die Entwicklung in Griechenland betrachtet: Was sich dort abspielt, ist nichts anderes als eine von der Regierung in Zusammenarbeit mit ungewählten Bürokraten der EU und der EZB organisierte vorsätzliche und kriminelle Insolvenzverschleppung zugunsten der internationalen Finanzindustrie auf Kosten der Mittelschicht und der schwächsten Teile der Bevölkerung.
Anmerkung: Dieser Bericht spiegelt nicht unbedingt die redaktionelle Haltung von acTvism Munich wieder.
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Ernst Wolff, Jahrgang 1950, wuchs in Südostasien auf, hat in Deutschland die Schule besucht und in den USA studiert. Er war u. a. als Journalist, Dolmetscher und Drehbuchautor tätig. Für Wolff ist die Wechselbeziehung von Wirtschaft und Politik, mit der er sich seit vier Jahrzehnten beschäftigt, von größter Bedeutung. „Die Finanzkrise von 2008 und die Eurokrise waren nur die ersten Vorboten eines aufziehenden globalen Finanz-Tsunamis, in dem der IWF und seine Verbündeten auch in Europa zu Maßnahmen greifen werden, die wir uns heute noch nicht vorstellen können“, so Wolff. Der Titel seines letzten Buches lautet: „Finanz-Tsunami: Wie das globale Finanzsystem uns alle bedroht.“
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